
Deutsch-deutsche Kurzgeschichten. Anthea Verlag, Taschenbuch, März 2014, 268 Seiten, ISBN 978-3-943583-31-1, € 12,90
Die Geschichten sind nach wahren Begebenheiten und Interviews mit Zeitzeugen entstanden, die sich in einem geschlossenen gesellschaftspolitischen System nach Freiheit und Individualität sehnten. Sie erzählen von Kontrolle, Grenzen, Flucht, Verrat und Tod in einer Diktatur; von Menschen in absurden Situationen, die dem DDR-System eine lange Nase gedreht haben … Geht unter die Haut.
Doris Wiesenbach schreibt aus der Perspektive mutiger Persönlichkeiten, die um ihre Identität kämpfen, und aus der Sicht eines Täters, der sich schuldig fühlt. Die Texte sind mit jener Prise Ironie gewürzt, die damals viele Bürger davor bewahrt hat, an ihrem Staat zu verzweifeln.
Das Buch wird im schulischen Kontext verwendet. Eine Studienrätin meinte: „Meine schwierigen Schüler sind mucksmäuschenstill, wenn ich die Geschichten vorlese.“
Der ZDF-Redakteur Ulrich Stoll verfasst für Grenzenlos eine 5-Sterne-Rezension und stellt dann fest, dass Amazon ihn nicht bewerten lässt. Er kauft Bücher bei kleineren Händlern:
Was bringt eine erst seit 1996 in Berlin lebende Frankfurterin auf die Idee, Geschichten über das Leben in der DDR zusammenzutragen? Die Liebe, könnte die Antwort sein, denn Doris Wiesenbach hat einen DDR-Dissidenten geheiratet, dessen Erlebnisse als Kurier der Opposition sie in der ersten der 15 Erzählungen wiedergibt. Das liest sich spannend, wie der junge Mann aus dem Zug geholt und von der Stasi verhört wird. Er verliert fast die Nerven, als die Geheimdienstmitarbeiter seinen Rucksack filzen und Schriften aus der Berliner Umweltbibliothek entdecken. Die Autorin hat gut recherchiert, zahlreiche Gespräche mit Zeitzeugen geführt und spannt einen Bogen von den 1950er Jahren bis in die Wendezeit 1989. Immer wieder geht es um die Sehnsucht nach Meinungsfreiheit, nach Reisefreiheit, um den Wahlbetrug durch die SED und andere Repressionsmaßnahmen, die das Leben der DDR-Bürger prägten, die viele von ihnen traumatisierten. In ‚Verrat‘ berichtet ein verzweifelter Chemiker von einem Mord zu DDR-Zeiten und dem langen Arm eines Geheimdienstes – diesmal dem des südafrikanischen Apartheidstaates, dessen Mitarbeiter sich offenbar in beiden Systemen bewegen konnten. Wiesenbach erzählt von einem Aktivisten der ‚Homosexuellen Aktion Westberlin‘, der zusammen mit Freunden die DDR-Schwulenszene beleben will. In altmodischen Frauenkleidern reisen sie nach Ost-Berlin, um dort einen Solidaritätsarbeitseinsatz bei der Deutschen Reichsbahn zu leisten. Doch der Paradiesvogel (so lautet auch der Titel dieser Episode) scheitert beim Versuch, sein ‚Selbstsicherheitstraining für homosexuelle Männer‘ in den Osten zu exportieren – die Stasi vereitelt die Pläne des West-Berliners ebenso wie die vieler DDR-Bürger, die sich für ein bisschen mehr Freiheit einsetzten. Ein auf Zersetzungstechniken spezialisierter Stasi-Vernehmer lässt in ‚Schneewittchen‘ sein früheres Leben Revue passieren. Doris Wiesenbach baut mit geschickt eingebauten Rückblenden Spannung auf und überrascht mit der Erkenntnis, dass auch ein allmächtiger MfS-Offizier zum Spielball der Geheimdienste werden kann. Man reibt sich die Augen angesichts der Tatsache, dass all diese Geschichten auf Zeitzeugeninterviews basieren, und muss am Ende erkennen: ‚Keine Literatur kann in Punkto Zynismus das wirkliche Leben übertreffen.‘ Als Autor, der sich intensiv mit dem Leben in der DDR und den Schrecken der Diktatur beschäftigt hat, kann ich ‚Grenzenlos‘ als gut geschriebene, spannend erzählte Geschichtensammlung wärmstens empfehlen.